Geliebtes Chaos Süditalien

26.01.2014 14:53

Geliebtes Chaos

 

Nach einigen Wochen Deutschland kam ich nun also zurück und ab Brenner fühlte ich das wohlbekannte Ziehen in der Bauchgegend – wie bei Frischverliebten.

Der Stau auf dem Brenner, der Schneeregen kurz danach, der Nebel um Modena und das Verkehrschaos um Bologna – wen juckt das?

Wusste ich doch, und anscheinend auch mein zuverlässiges kleines Auto, dass es in wärmere und ruhigere Gefilde geht.

 

Manche Blogs, die ich auch bei meinem Aufenthalt in Deutschland weiter verfolgt habe, picken aus den unendlichen Informationen des Netzes das Schlechte heraus, um es zu verbreiten.

Ein Leser meines eigenen Blogs hat mich die Tage dazu angeschrieben mit der Frage, warum sich manche so ergötzen am Pessimismus.
Eine Frage, die ich so nicht beantworten kann, da ich die Motivation nicht kenne. Eigene Unzufriedenheit? Immer noch nicht eingelebt und Probleme mit den Einheimischen und ihrer lebenslustigen Art? Keine Ahnung..

 

Ich zog Bilanz aus den vergangenen Wochen und dachte nach.
Beim Begleiten von Verwandtschaft zu diversen Behördengängen fiel mir wieder auf, wie gut organisiert Deutschland ist, aber auch, wie kühl im zwischenmenschlichen Bereich.
Alles funktioniert fast reibungslos, wofür man hier schon mal mehrere Anläufe braucht, bis man eine Sache geregelt hat. Wo die Akte in Deutschland an ihrem Platz verweilt, bis sie an der Reihe ist, so tut ein Fäßchen Bier oder deutsche Zigarren in Italien  auch mal wahre Wunder.
Wem das nicht so liegt, der wartet eben – wie damals in der Heimat.

Italien ist ein lebenslustiges, aber langsames Land – in vielen Bereichen.

In anderen Bereichen geht es dagegen locker zu und blitzschnell.

 

Die Krise, ja die Krise, die böse Krise. Italien ist krisengebeutelt.
Welches Land ist es nicht?
In Deutschland versteckt man die hohe Arbeitslosigkeit hinter 1-Eurojobs, hinter sinnlosen Maßnahmen des Arbeitsamtes, hinter Fortbildungen, die die Menschen garantiert von der Bildung fortbringen.
Die Jugendarbeitslosigkeit ist offiziell auch niedriger als in manchen Ländern Europas, denn bis man einen Beruf ausüben kann, vergeht Jahr um Jahr mit Schule, Kursen, Praktika, Weiterbildungen, Abschlüssen.. Wer keine 18 Jahre alt ist, darf das Berufsgrundschuljahr besuchen und fällt nicht in die Statistik.

Italien ist da ehrlicher und hat ein anderes Bildungssystem. Wer nicht sozialversicherungspflichtig arbeitet ist eben arbeitslos und Punkt.
Und wird in der Statistik genauso geführt. Ohne Tricks.
 

Der Konsum und die Inflation.. Auch so ein Thema, wo manch einer gern auf Italien herumreitet.
Und da ich im Winter in Deutschland war, hörte ich die Klagen über die stetig steigenden Heizkosten und die Auswirkungen auf den restlichen Einkauf, der logischerweise immer bescheidener ausfällt.

Liebe Freunde, die früher regelmäßig in Oper und Theater, zum Friseur und in die Sauna gingen, sitzen heute zuhause und lesen ein Buch zur Musik aus dem CD-Player. Das eigene Haus schaffen sie gerade noch zu halten, aber bei der nächsten größeren Reparatur werden sie es auf den Markt bringen müssen. Die Reserven sind aufgebraucht.

 

Natürlich ist in Italien die Autoversicherung schweineteuer. Das muss man zugeben. Vor allem für Fahranfänger.
Wie sieht es für diese in Deutschland aus?

 

Ich plädiere dafür, dass  man die Kirche im Dorf lässt und auch mal etwas Positives schreibt und verbreitet. Es gibt ja einen Grund – oder mehrere, dass Menschen aus Deutschland, der Schweiz oder Österreich nach Italien gehen, dort leben oder sich für das Alter vorbereiten.

Über das bessere Wetter, gesundes Essen, die niedrigen Heizkosten und das schöne Meer müssen wir nicht reden. Das sind so bedeutende Gründe, die erklären sich von selbst.

Aber sonst?

 

Ich mag zum Beispiel die kleinen Dinge im Alltag, die einem unverhofft passieren. Und genau diese zählen, nicht die große Politik weit weg in Rom.
Vorgestern gab ich meinen alten, kaputten Scanner ab. Er bewegte seinen Balken nicht mehr über das Dokument und röchelte nur noch. Er hat den Vorteil, dass er so einfach konzipiert ist, dass ich ihn verstehe. So erklärte ich es im Dorfladen für technische Probleme aller Art und gestern holte ich ihn ab.
Es lohnte sich nicht, aber der gute Mann hat ihn auseinandergebaut und sich etwas einfallen lassen, damit er wieder läuft. Seine Frau erzählte lachend, dass er von 18 Uhr bis 23 Uhr daran gebastelt habe voller Ehrgeiz.
Er nahm 10 Euro dafür..

 

Der Dorfapotheker gibt uns alles was wir brauchen, so dass ich auch ein deutsches Medikament bekomme, auch wenn es von einer anderen Firma ist, aber in der gleichen Zusammensetzung, nur um etliches preiswerter, wie allgemein Medikamente in Italien.
Er fragt nicht mal nach einem Rezept. Schließlich sind wir volljährig. Er fragt aber, was man sonst noch so nimmt, damit es sich verträgt und gibt Ratschläge zur Anwendung.

Dass ein Medikament 3,80 Euro kostet und in Deutschland habe ich es selber zahlen müssen mit 49 Euro – das darf auch mal erwähnt werden.

Der Bauer, der weiß, dass ich meinen geliebten Schäferhund verloren habe nach langen Jahren, setzt sich dafür ein, dass ich aus des Schäfers Wurf seiner besten Hündin einen Welpen aussuchen konnte.
 

Die Genossenschaft der Bauern, die die Ölmühle betreibt und deren Chef mir ungefragt und ohne Bezahlung mein erstes eigenes Olivenöl untersucht im Labor, weil es ihn freut, dass ich mich so sehr freue über die 0,2 Grad Säure, also extra, extra, extra vergine.

 

Die Verkäuferin, die im brechend vollen Handyladen mir mein neues, in Deutschland gekauftes Handy erklärt, obwohl sie an mir nie einen Euro Umsatz gemacht hat. Und das mit einer Engelsgeduld, mir noch ihre Privatnummer aufschreibt, für den Fall, dass ich Hilfe brauche an einem Sonntag.

 

So gibt es ganz viele Beispiele, die ich nennen könnte zum Umgang miteinander, der mir hier so gefällt.

 

Aber es gibt auch wirklich wichtige Dinge, die Italien uns voraus hat.

Da ist der Schutz des einzigen, selbstbewohnten Hauses, welches keiner einkassieren kann. Schulden beim Staat? Keine Bange vor der staatlichen Einzusagentur Equitalia, denn das „prima casa“, also das erste Haus im Besitz des Schuldners, bleibt unangetastet.
In Deutschland wird es zwangsversteigert, sobald man seine Steuern nicht zahlen kann.

https://www.youtube.com/watch?v=ZikJ_v9LxiI

 

Bei allem Chaos in der Gesundheitsfürsorge muss erwähnt werden, dass jeder, auch ohne Geld und Versicherung, die Notaufnahme der Krankenhäuser nutzen kann. Dass Privatärzte mickrige Honorare haben und man jederzeit ohne große Wartezeiten einen Termin beim Facharzt als Privatmensch für 50 – 100 Euro erhält samt Diagnose und Rezept.
Wir haben in dieser Form den Chefarzt der Urologie eines großen Krankenhauses für 70 Euro in Anspruch genommen, den Zahnarzt für 60 Euro, den Augenarzt für 50 Euro inklusive 2 Nachuntersuchungen und Medikamentenwechsel, den Chefarzt der Kardiologie eines bedeutenden Krankenhauses für 120 Euro usw..

 

Der soziale Wohnungbau steht Arbeitslosen und Minirentnern zur Verfügung, nach entsprechender Wartezeit nach Antrag wohnen die Menschen dann mietfrei und zahlen nur einen Bruchteil ihrer Nebenkosten – und das ohne weitere Überprüfungen ein Leben lang. Hier wird gern Mißbrauch betrieben und wir selber kennen gut verdienende Handwerker, welche so leben mit ihrer Familie.
In unserem Ort sind diese Wohnungen sogar Reihenhäuser mit Vorgarten und Terrasse.

Dass wir in der Gegend um Gallipoli extrem privilegiert sind, muss ich allerdings ehrlicherweise dazusagen.
Hier lebt man vom Tourismus, der jedes Jahr wächst bzw. teurer wird. Das ist der in diesem Falle mal guten Administration geschuldet, welche Massenherbergen und Hochhäuser konsequent verbietet, welche sich erfolgreich wehrt gegen Industrieansiedlungen, riesige Solarparks etc.
So wird unser Küstenstreifen immer beliebter bei Individualtouristen, welche die unberührte und saubere Natur suchen, das ionische Meer ohne Eintritt an den Stränden und dafür ordentlich zahlen.

Die Einheimischen vermieten, kellnern, backen und kochen, verkaufen ihre landwirtschaftlichen Produkte und verdienen von Ostern bis Ende September genug fürs ganze Jahr.

Wer große Karriere machen will geht weg. Wer bescheiden im Paradies leben möchte bleibt da. Es geht friedlich zu und die große Krise ist eben weit weg bzw. im TV zu bestaunen. Hier ist die Zeit stehengeblieben und man besucht sich statt zu telefonieren.

 

Das sieht in anderen Gegenden sicher ganz anders aus. Niemand bestreitet, dass es sich um Taranto herum anders lebt, dort zieht freiwillig keiner hin, alle wollen weg. Sicher ist Milano schmutzig und teuer, da es dort auch schweinekalt wird im Winter und die Mieten unbezahlbar sind.

Rom mit all seinen Flüchtlingen und Neapel mit seiner Müllmafia ist kein Zuckerschlecken.

Aber so wie es in Deutschland Sylt und Starnberg gibt, den schönen Harz und das touristisch geprägte Potsdam und auf der anderen Seite Chemnitzer Plattenbauten und Berliner Viertel, in die nicht mal mehr das Ordnungsamt reinfährt, so gibt es in Italien auch Unterschiede.

Und wer sich die falsche Gegend aussucht, der kann natürlich auch auf Sand bauen und sein blaues Wunder erleben. Sei es in der alten Heimat oder fernab von dieser.

Aber man sollte nicht verallgemeinern und das wunderbare Italien als ganzes schlechtmachen. So wie die Italiener nicht Deutschland an sich schlecht reden, nur weil sie mit Frau Dr. Merkel nicht warm werden.

 

Morgen nach dem Frühstück werde ich meine Rape ernten und die Blumenvasen im Wohnzimmer frisch befüllen – und alles wächst vor der Haustür. Ende Januar. Für den Nachmittag planen wir einen Ausflug mit Kaffeetrinken am Meer – ich kann einfach nicht böse sein auf dieses Land, auch wenn es chaotisch ist und man sich an Einiges echt gewöhnen muss.

Aber einmal eingelebt und sich der Mentalität angepasst, wird man sich nirgends mehr so wohl fühlen und so frei wie unter dem eigenen Olivenbaum..

 

Eure mamaleone